Rezeptionsästhetik


Rezeptionsästhetik und der Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik

Turkowska, Ewa: Literarische Texte im Deutschunterricht. Theorie und Praxis. Radom 2006, S. 26-31

 Das literaturdidaktische Denken in Deutschland war jahrelang (etwa zwischen 1945 und 1970) von der werkimmanenten Methode der Arbeit an dem literarischen Werk beherrscht. Sie wurzelt in der literaturwissenschaftlichen Position des New Criticism, einer der einflussreichsten Richtungen der Literaturwissenschaft. Im Mittelpunkt steht hier der literarische Text, der als das „literarische Kunstwerk“ bezeichnet wird. Es wird als isoliertes, an sich existierendes ästhetisches Gebilde aufgefasst, und ohne Bezüge zu historischen, gesellschaftlichen, kulturhistorischen Kontexten interpretiert. Entstehungsgeschichte, biographische und psychologische Motive werden ebenso auβer Acht gelassen. Diese Auffassung zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen dem, was der Text ist und dem, was er bei dem Leser hervorruft. Die individuellen Leserreaktionen werden aus dem Blickfeld ausgeschlossen, sie gelten als etwas Willkürliches, was die objektive Einschätzung des Werkes infolge einer Gefühlstäuschung verhindert. Diese Position erreichte in der deutschen Germanistik eine Monopolstellung nach dem Zweiten Weltkrieg und bestimmte für mehrere Jahrzehnte die muttersprachliche Literaturdidaktik in Deutschland. Der Umbruch kam mit der Erkenntnis, dass die Beschränkung ausschlieβlich auf den Text dem Phänomen der Literatur nicht gerecht wird: Notwendig ist es, die Aktivität des Lesers mit einzubeziehen.

 Grundsätze der Rezeptionsästhetik

Die Rezeptionsästhetik entwickelt eine Theorie idealer Interaktion zwischen Text und Leser, sie versucht die strukturelle Objektivität der Texte und die konstitutive Leistung der Textrezeption aufeinander zu beziehen. Anfänge der Rezeptionsästhetik sind in der Fragestellung nach der Existenzart poetischer Texte zu suchen. Wo existiert der Text – im Bewusstsein des Autors während der Schaffenszeit, als vorhandener Text (Werkstruktur) oder auf der Rezeptionsseite, im Bewusstsein des Lesers, in der individuellen Textrealisation, in der Wirkungsgeschichte? (Ricklefs 1996:992, 994).
Die Rezeptionsästhetik bewegt sich im Spannungsfeld von Phänomenologie (R. Ingarden), Wissenssoziologie (K. Mannheimer), Hermeneutik (H.-G. Gadamer), und Fiktions- bzw. Imaginationstheorie (W. Iser), mit gewissen Berührungen zu Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus (Ricklefs 1996:993). Ihre klassische Form verdankt die Rezeptionsästhetik der sogenannten Konstanzer Schule, repräsentiert von Wolfgang Iser und Hans  Robert Jauβ.
Die rezeptionsästhetische Theorie W. Isers konzentriert sich auf den idealtypischen Akt des Lesens und die Bedingungen der Fiktionalität. Basistheorem bei Iser ist das von R. Ingarden übernommene Konzept des Textes als eines Normensystems, auf das der Leser mit Konkretisierungen reagiert. Der Akt des Lesens schlieβt Leserbewusstsein und Textstruktur zusammen.
Iser hat untersucht, wie der literarische Text den Leser motiviert, an der Sinnbildung mitzuwirken. Er stellt dabei die Reaktionen des Lesers in den Mittelpunkt. Der literarische Text ist nicht wie ein Gegenstand gegeben, sondern entsteht durch die Tätigkeiten des Lesers, wenn er aus der Abfolge der Wörter eine fiktive Welt entstehen lässt (Bredella 1991:51). Schwerpunkt der Iserschen Forschung sind die Textstrategien, die die Tätigkeiten des Lesers lenken und den Lesevorgang mitbestimmen. Von diesen Strategien wird hier nur die der „Leerstelle“ näher erläutert, weil sie den gröβten Widerhall in der Literaturdidaktik gefunden hat.
Die Leerstelle entsteht nach Iser dann, wenn zwei Segmente des Textes aufeinandertreffen und den Leser motivieren, sie zueinander in Beziehung zu setzen. Leerstellen entstehen u. a., wenn eine Handlung aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt und bewertet wird oder wenn der Leser zwei widersprüchliche Handlungen einer Figur zueinander in Beziehung setzt (Bredella 1991:51). Leerstellen lassen beim Lesen verschiedene Realisierungsmöglichkeiten offen. So kann der Leser in seine Konkretisierungen seine Erfahrungen in individueller Weise einbringen, die von seiner Lebenserfahrung und seinem Weltwissen, aber auch von seinem literarischen Wissen abhängig sind. Die Leerstellen des Textes treten auf mehreren Strukturebenen auf. Jeder fiktionale Text beweist dadurch eine programmierte Mehrsinnigkeit (Schober 1977:208).
Das Text-Leser-Verhältnis ist jedoch nicht einseitig vom Leser dominiert. Der Text ist der Bedingungsfaktor, er beinhaltet die eingeplanten Rezeptionslenkungen – die Werkstruktur. (Schober 1977:208-209). Sie entscheidet darüber, dass Konkretisationen nicht beliebig sind. Der literarische Text besitzt wegen seiner verschiedenen Deutbarkeit eine „Appellstruktur“ (vgl. Iser 1975). Unbestimmtheit eines fiktionalen Textes ist die Wirkungsbedingung literarischer Prosa.
Iser unterscheidet „Text“ vom „Werk“. Der Text wird zum Werk erst durch seine Konkretisation durch den Leser. Das Werk ist mehr als der Text: Es gewinnt sein Leben erst in der Konkretisation des Lesers. Die Konkretisation ist beeinflusst von den Dispositionen des Lesers, aber die Dispositionen können nur von den Bedingungen des Textes aktiviert werden. Das literarische Werk besitzt zwei Pole: den künstlerischen und den ästhetischen. Der künstlerische ist der vom Autor geschaffene Text, der ästhetische – die vom Leser geleistete Konkretisation (Iser nach Schober 1977:208, 209). Jedes literarische Werk hat somit zwei Autoren: denjenigen, der ihn geschrieben hat, und einen, der ihn rezipiert. Der Leser wird also zum Mitautor des Werkes.
Die Rezeptionsästhetik stellt keine einheitliche Theorie dar. Die einzelnen Positionen unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung, inwieweit der Text die Tätigkeiten des Lesers steuert. Dieses Problem hängt mit der wichtigsten Frage der postobjektivistischen Literaturwissenschaft zusammen, die aus dem Text-Leser-Verhältnis hervorgeht. Wenn der Sinn des literarischen Textes erst in der Interaktion entsteht, dann stellt sich die Frage, ob jede Interpretation des Textes als legitim angesehen werden kann. Die entscheidende Rolle wird entweder dem Text oder dem Leser zuerkannt. Bei Iser spielt der Text die entscheidende Rolle: Er lenkt den Leser. Isers Ansicht in diesem Punkt teilen heutzutage die hermeneutisch orientierten Literaturwissenschaftler und Literaturdidaktiker. Nach der Auffassung Bredellas muss zugleich die konstitutive Rolle des Lesers und die grundbestimmende Rolle des Textes anerkannt werden. Der Leser kann den Text nur verstehen, wenn er tätig und kreativ ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass er seine Vorstellungen in einen amorphen Text projiziert. Er wird durch den Text gelenkt und zu jeweiligen Lesertätigkeiten veranlasst und herausgefordert. „Der Text bestimmt, welche Leerstellen er füllen bzw. überbrücken muss, welches Vorwissen und welche Vorerfahrungen er dem Text zur Verfügung stellen und wie er sie modifizieren muss. Nur dadurch, dass der Text die Bedingungen setzt, unter denen der Leser kreativ wird, kann Lesen und Verstehen zu neuen Erkenntnissen und zu einem vertieften Selbstverständnis führen“ (Bredella 1991:52) 1). Bei der Textinterpretation handelt es sich demnach um das Verstehen des Textes.
 
Die Rezeptionsästhetik ist in Polen relativ wenig bekannt. Diese Theorie tritt unter verschiedenen Benennungen auf: „estetyka recepcji“ (Or這wski 1986), „estetyka recepcji i oddzia造wania“, „teoria lektury“ (Handke 1991), „poetyka odbioru“ (Balcerzan 1976, Chrz御towska/Wys這uch 1987). Die Basistexte der Rezeptionsästhetik (Iser, Jauβ) wurden zwar von polnischen Literaturwissenschaftlern in ihren Arbeiten erwähnt (z. B. Markiewicz 1980, Chrz御towska/Wys這uch 1987) und mehrmals ins Polnische übersetzt (u.a. Or這wski 1986), aber ihre Forschungsideen wurden weder in der Literaturwissenschaft zur Analyse von Werken der polnischen Literatur verwendet (Handke 1991:50) noch sind zu Grundlagen einer literaturdidaktischen Schule geworden. Die Literaturdidaktik in Polen stützt sich auf die Positionen des Strukturalismus 2) und der Semiotik und nimmt die rezeptionsästhetische Theorie nur in geringem Umfang wahr. Zu wenigen Ausnahmen können u.a. die Arbeiten von R. Handke (1984, 1991) gerechnet werden.

 Didaktische Konsequenzen der Rezeptionsästhetik

 Für die Literaturdidaktik hatte die Rezeptionsästhetik eine bahnbrechende Bedeutung. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass der literarische Text nicht als Text „an sich“, sondern nur als rezipierter Text existiert. Jeder Leser liest ihn neu, aus seiner Perspektive und aus dem Hintergrund seiner Erfahrung. So entstehen immer neue Deutungen desselben Textes. Diese Unterschiede treten schon unter Angehörigen desselben Kulturkreises oder Sprachraumes, sie sind noch gröβer, wenn der Rezipient zu einer anderen Kultur gehört.
Unter dem Einfluss der Rezeptionsästhetik erfuhr die Literaturdidaktik eine entschiedene Veränderung. Der Text hörte auf, im Mittelpunkt der Arbeit im Unterricht zu stehen. Entscheidend für die Unterrichtsgestaltung war nunmehr das, was sich in der Interaktion zwischen dem Text und dem Leser entwickelte. Der Text an sich enthält noch keine Bedeutung, die wird ihm erst im Leseprozess verliehen. Die Offenheit der Texte fordert die Leser auf, über die Textaussagen hinauszugehen, das, was nicht direkt gesagt wird, hinzuzudenken, aufgeworfene Fragen zu beantworten, Leerstellen zu füllen (Kast 1994:7). Im Unterricht handelt es sich nunmehr primär um Sinnkonstruktionen der Schüler, Schülerkonkretisationen des Textes, Schülerreaktionen auf den Text. Das neue didaktische Paradigma heiβt also nicht mehr „Text“, sondern „Leser“.
Die Folgen der Rezeptionsästhetik für die Literaturdidaktik sind von groβer Tragweite:
Unterschiede in der Aufnahme literarischer Texte sind gröβer, wenn die Lernergruppe nicht homogen ist, z. B. wenn sie aus Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise, Gesellschaftsgruppen oder Altersstufen besteht. Interpretationsgespräche schaffen im Klassenraum echte Kommunikationssituationen, weil jeder Redebeitrag die 萒erzeugung des Sprechers darstellt, die den anderen neu ist. Die Sprache bekommt die Rolle des Kommunikationsmittels zurück.
Impulse der Rezeptionsästhetik wurden seit dem Ende der 1970er Jahre, zuerst von der muttersprachlichen Literaturdidaktik, schöpferisch verarbeitet. Es zeigte sich bald, dass sich das neue Modell hervorragend mit den Zielvorstellungen des kommunikativen und des interkulturellen Ansatzes im Fremdsprachenunterricht verbinden lässt. Die kulturräumliche Distanz eines fremdsprachlichen und fremdkulturellen Lesers löst Rezeptionsgespräche aus, weil jeder Leser auf die Offenheit eines literarischen Textes aus seiner kulturellen Perspektive reagiert. Im Unterricht kommt es zu Gesprächen über unterschiedliche Deutungen. In der Fremdsprache geführt, werden sie zu Lerngesprächen, wenn den Lernenden entsprechende sprachliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Verschiedene Rollenspiele, Ergänzung von Leerstellen (z. B. dort, wo Dialoge fehlen), bieten Gelegenheit zu weiteren Sprechübungen.
Literarische Texte erweisen sich als die besten Sprechanlässe und führen zur Entstehung echter Kommunikationssituationen, denn jeder Leser spricht aus dem echten Bedürfnis, etwas den andern mitzuteilen. Die Dialoge werden improvisiert, nicht erstellt, wie in üblichen Lehrwerkszenen. Die Fremdsprache spielt also die Rolle des Kommunikationsmittels, wie in der echten Kommunikation.

  Anmerkungen

1) Ähnliche Positionen vertreten die meisten berühmten Literaturdidaktiker in Deutschland wie K. Fingerhut, K. H. Spinner, H. Müller-Michaels, H. Kügler
2) Der Strukturalismus nimmt in Polen eine ähnliche Position ein wie einst der New Criticism in Deutschland. In Polen formten sich seine Grundsätze vor allem unter dem Einfluss der russischen Formalisten und der Prager Schule (u. a. Jakobson, Mukarovsky, Vodicka). Seine Vertreter führten in die Literaturwissenschaft mehrere sprachwissenschaftliche Begriffe ein, die eine Basis für Bearbeitungen aus Bereichen wie Theorie der poetischen Sprache, Stilistik, Verswissenschaft bildeten. Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Strukturalismus liegt darin, dass das Interesse slawischer Forscher über die Grenzen der Struktur und Form literarischer Texte hinausschritt und zusätzlich Probleme wie semantische Organisation des literarischen Werkes, Theorie des historisch-literarischen Prozesses, Literatursoziologie umfasste. Zu den klassischen Grundsätzen des Strukturalismus, die zum festen Bestandteil der polnischen Literaturwissenschaft geworden sind, gehören u.a. folgende Theoreme: a)Die ästhetische Funktion dominiert in dem literarischen Werk, sie bestimmt die hierarchische Anordnung seiner Elemente. b)Ein literarisches Werk hat einen semiotischen Charakter und als solcher muss er in dem Kontext einer gesellschaftlichen Kommunikationssituation betrachtet werden, in Beziehung zu der Person des Autors und des Rezipienten, der ein bestimmtes Lesepublikum repräsentiert. c)Ziel der Literaturforschung ist in gleichem Maβe die synchronische Beschreibung einer Struktur wie ihre diachronische Darstellung unter Berücksichtigung der Veränderungen, denen sie in der historischen Zeit unterliegt (S豉wi雟ki 1976:420-421). Der Strukturalismus entwickelte unter dem Einfluss des dialektischen Materialismus einen vielseitigen Forschungsapparat. Er behält seine privilegierte Position in der polnischen Literaturwissenschaft und -didaktik bis heute und erweist sich somit als erstaunlich beständig auch in der veränderten gesellschaftspolitischen Situation.
3) Eine liberale Auffassung der Interpretationsfrage lässt sogar zu, dass jede Interpretation des Lesers berechtigt ist. Dieser Interpretationswillkür setzen sich die meisten Forscher entgegen. Für die Bedürfnisse der Literaturdidaktik C können wir allerdings annehmen, dass jede Interpretation des Schülers, die er zu begründen vermag, gilt. Schlieβlich geht es im Fremdsprachenunterricht vordergründig um sprachliche Aktivität der Schüler, nicht um literaturwissenschaftliche Erwägungen
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